Für eine konsequent demokratische und internationalistische Linke

Ein Beitrag zur Erneuerung und Transformation der Linken

10. Dezember 2023

Seit Wochen sehen wir mit Grauen, wie die Zahl der zivilen Todesopfer in Gaza Tag für Tag steigt. Wir sind entsetzt und empört über die kollektive Bestrafung der Bewohner:innen des Gazastreifens durch die IDF, die zunehmende Gewalt von Siedler:innen im Westjordanland und die Repression seitens des Staates und rechter Mobs gegen palästinensische Bürger:innen Israels. In den USA, in Europa, in Indien und anderswo wird Palästina-Aktivismus als Ganzes von vielen Mainstream-Politiker:innen und einem Großteil der Medien dämonisiert und in einigen Fällen vom Staat kriminalisiert. Ein Großteil der westlichen Berichterstattung über Israel/Palästina ist von zivilisatorischem Rassismus durchdrungen, wobei Israelis oft als moderne, westliche, zivilisierte Menschen dargestellt werden, deren Leiden irgendwie realer und wichtiger ist als das der Palästinenser:innen. Die rassistische Entmenschlichung von Muslim:innen und Araber:innen trägt zu dem Leid bei, das die Palästinenser:innen erfahren.

In diesem Zusammenhang ist der Impuls verständlich, sich nur auf das Unmittelbare zu konzentrieren. Man kann das Gefühl haben, dass dies der falsche Zeitpunkt ist, darüber zu sprechen, was mit dem linken Israel/Palästina-Aktivismus und der Linken im Allgemeinen nicht stimmt.

Wir glauben dagegen, dass angesichts einer Krise Selbstreflexion nicht weniger wichtig ist, sondern umso wichtiger. Wir müssen jetzt – nicht später – kritisch darüber nachdenken, ob die vorherrschenden Perspektiven in unseren Bewegungen – im weitesten Sinne – die richtigen sind, um tatsächlich Veränderungen zu erreichen.

Vieles, was in der Linken über Imperialismus und Anti-Imperialismus, Nationalismus und Internationalismus, Rassismus, Islamismus und viele andere Themen gesagt und geglaubt wird, ist in unseren Augen zutiefst fehlerhaft und manchmal reaktionär.

Zu viele Linke haben das Massaker vom 7. Oktober durch die Hamas und den Islamischen Dschihad im Süden Israels verteidigt oder sogar gefeiert. Dies ist unserer Ansicht nach ein Ausdruck dieser fehlerhaften Analysen und reaktionären Tendenzen.

Wir sind langjährige linke Aktivisten und Organisatoren. Mit diesem Text wollen wir uns mit den vorherrschenden Stimmungen in der Linken auseinandersetzen und anderen, die so denken wie wir, zeigen, dass sie nicht allein sind. Es ist auch eine Einladung an andere Linke, sich uns anzuschließen und gegen Antisemitismus, verkürzten Antirassismus, Lagerdenken (“Campism”), Nationalismus, Anbiederung an den Islamismus und andere Links-Rechts-Bündnisse Stellung zu beziehen. Wir schreiben in der Hoffnung, dass eine bessere internationalistische Linke möglich ist.

Ziel unserer Kritik ist es nicht, die linke Unterstützung für die Rechte und die Freiheit der Palästinenser:innen abzuschwächen, sondern diese Unterstützung in einem konsequent demokratischen, basisorientiert-internationalistischen und damit wirklich universalistischen Projekt wiederzuverankern. Wir wollen eine Linke, die nicht nur für die Rechte der Palästinenser:innen kämpft, sondern für Demokratie, Gleichheit und Freiheit für alle.

Während viele der Bilder, die am 7. Oktober von den Grenzen des Gazastreifens auftauchten, zunächst Zivilist:innen zeigten, die Zäune durchbrachen, war am Vormittag klar, dass die Hamas und ihre Verbündeten eine große Anzahl unbewaffneter Zivilist:innen brutal ermordet und andere entführt hatten. Die Opfer waren alt und jung, darunter Holocaust-Überlebende, Wanderarbeiter:innen und arabische Beduin:innen. Es gibt eindeutige Beweise für Folter und extreme sexuelle Gewalt. Das Ausmaß und die Brutalität der Angriffe lösten nicht nur in der israelischen Gesellschaft, sondern auch in der weltweiten jüdischen Diaspora Wellen der Angst und des Traumas aus, und das in einer Zeit, in der die meisten Jüdinnen:Juden – Zionist:innen und Nicht-Zionist:innen – vielfältige Verbindungen zu Israel haben. Das Massaker vom 7. Oktober und die Raketenangriffe auf israelische Zivilist:innen sind grausame Taten, die den Jüdinnen:Juden in Israel und in der Diaspora tiefen Schmerz bereiten.

Doch die Apologetik eines Großteils der radikalen Linken für die Gewalt der Hamas gegen Zivilist:innen offenbart nicht nur einen Mangel an grundlegendem menschlichen Mitgefühl, sondern auch eine falsche Einschätzung der Hamas als politische Kraft. Die Hamas ist nicht nur ein abstrakter Ausdruck eines „Widerstands“ gegen Israel. Sie verfolgt mit ihren Aktionen ihre eigenen politischen Ziele – Ziele, die von Grund auf reaktionär sind. Diese durch eine uneingeschränkte Unterstützung des „Widerstands“ auszublenden, bedeutet, den Palästinenser:innen die Handlungsfähigkeit abzusprechen und sie auf eine rein reaktive Kraft zu reduzieren, die nicht in der Lage ist, politische Entscheidungen zu treffen. Sich gegen die Hamas zu stellen, bedeutet nicht, „den Palästinenser:innen zu sagen, wie sie Widerstand leisten sollen“, sondern sich auf die Seite derjenigen Palästinenser:innen zu stellen, die sich ebenfalls gegen die Hamas wenden und auf einer anderen politischen Grundlage für tatsächlichen Widerstand eintreten.

Auf die Aktionen der Hamas folgte eine massive Reaktion des israelischen Staates – eine Reaktion, die Hamas voraussehen konnte und mit der sie auch gerechnet hatte. Um es noch einmal zu sagen: Wir sind entsetzt über die Angriffe des israelischen Staates auf die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur im Gazastreifen, die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, die entmenschlichende Sprache und die Vorschläge zur ethnischen Säuberung durch israelische Politiker:innen, die Pläne der Siedler:innen zur Kolonisierung des Gazastreifens und die Gewalt der Siedler:innen und der israelischen Sicherheitskräfte gegen die Palästinenser:innen im Westjordanland. Wir lehnen all das ab. Wir unterstützen den Kampf für die Rechte der Palästinenser:innen und lehnen die Gewalt des israelischen Staates und die Besetzung ab.

Doch wenn unsere Bewegungen ihre emanzipatorischen und demokratischen Ziele wirksam verfolgen sollen, muss es Raum geben für Reflexion über und Kritik an Impulsen innerhalb der Linken, die diesen Zielen zuwiderlaufen.

Das anhaltende Leiden der Palästinenser:innen anzuerkennen und in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet nicht, dass wir nicht auch ernsthaft darüber nachdenken können, was an vielen linken Reaktionen auf den 7. Oktober und an vielen linken Perspektiven im Allgemeinen falsch sein könnte.

Nach den Angriffen haben sich antisemitische Vorfälle – sowohl gewalttätige Angriffe als auch Belästigungen online wie offline – weltweit vervielfacht. Antisemitische Diskurse verbreiten sich viral in den sozialen Medien und auf der Straße. Auch der antimuslimische Rassismus hat dramatisch zugenommen. Die extreme Rechte hat den Konflikt als Gelegenheit genutzt, neue Zielgruppen zu erreichen, sowohl unter den Befürworter:innen als auch unter den Gegner:innen Israels. Die zunehmende Polarisierung und Spaltung hat nicht nur zur Entmenschlichung von Israelis und Palästinenser:innen, sondern auch von Jüdinnen:Juden, Muslim:innen und Araber:innen in aller Welt beigetragen und eine Kultur des Wettbewerbs um Opferstatus statt Solidarität gefördert.

Wir wehren uns gegen Versuche, die gesamte Palästina-Solidarität abzutun, zu dämonisieren oder gar zu kriminalisieren, weil es in der Bewegung und in der Linken im Allgemeinen Antisemitismus gibt – dennoch bleibt eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus notwendig.

Dies ist keine Frage der PR oder des “Aussehens”. Der Grund für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, wenn er in der Linken auftritt, ist nicht, dass er die Sache der Palästina-Solidarität „schlecht aussehen“ lässt. Es geht darum, dass die Präsenz reaktionärer, verschwörungstheoretischer Perspektiven in unseren Bewegungen – selbst in verschlüsselter Form oder am Rande – unsere Politik zu vergiften droht.

Wo hat die Linke versagt?

Warum fällt es so vielen Linken so schwer, die grundlegende Menschlichkeit und das traumatische Leiden von Zivilist:innen – einschließlich israelischer Staatsbürger:innen – konsequent als Ausgangspunkt zu nehmen? Warum sind einige nicht in der Lage, ein Massaker zu verurteilen, ohne es bis zur Bedeutungslosigkeit zu relativieren oder in einen Kontext zu stellen, der es unbedeutend macht? Warum scheint die Solidarität der Linken mit den Opfern von Unterdrückung manchmal von der geopolitischen Ausrichtung des Staates, der sie unterdrückt, abhängig zu sein? Warum tut sich ein Großteil der Linken schwer damit, Antisemitismus in ihren eigenen Reihen zu erkennen und zu bekämpfen?

Es gibt keine einfache Antwort auf diese Fragen, aber wir glauben, dass zu beginnen, sie zu beantworten ein wesentlicher Schritt zur Erneuerung der Linken ist. Wir bieten hier unsere Analyse der aus unserer Sicht wichtigsten Probleme an.

Fetischisierung von Israel/Palästina

Israel/Palästina ist für einen Großteil der heutigen Linken zum zentralen Moraldrama geworden, so wie es Südafrika für viele in einer früheren Generation war.

Einige Mainstream-Reportagen und -Kommentare verwenden einen orientalistischen Rahmen, um die gesamte Region zu beschreiben, indem sie die Araber:innen als barbarisch und vormodern darstellen, im Gegensatz zu Israel, das gewöhnlich als moderne liberale Demokratie dargestellt wird.

Gleichzeitig schenken sowohl Mainstream- als auch linke Medien Palästina/Israel weitaus mehr Aufmerksamkeit als Syrien, Kurdistan, Sudan, Äthiopien, der Demokratischen Republik Kongo, Sri Lanka, Myanmar oder anderen globalen Krisenherden, in denen militaristische Staaten (oder nichtstaatliche Akteure) nationale und ethnische Minderheiten unterdrücken oder Massaker verüben.

Es geht nicht darum, eine politische oder moralische Hierarchie der weltweiten Unterdrückung aufzustellen oder Aufmerksamkeit und Aktivitäten danach auszurichten, in welchem Land das größte Leid herrscht. Vielmehr sollte die Solidarität mit den Palästinenser:innen aus einem Engagement für universelle Rechte erwachsen, das auch die Solidarität mit allen anderen Kämpfen gegen Unterdrückung vorantreiben sollte.

Mit der Fetischisierung Israels/Palästinas und der Romantisierung und Idealisierung des palästinensischen Kampfes spiegelt die Linke die Entmenschlichung der Palästinenser:innen durch den Mainstream wider. Diese linke Fetischisierung Israels/Palästinas hat zur Folge, dass sowohl Palästinenser:innen als auch israelische Jüdinnen:Juden zu transzendenten Avataren für politische Erzählungen werden, anstatt als Menschen aus Fleisch und Blut gesehen zu werden, die zu ganz unterschiedlichen Reaktionen auf ihre Bedingungen und Erfahrungen fähig sind.

Historischer Analphabetismus

Trotz der zentralen Bedeutung der palästinensischen Sache für die heutige Linke ist das Verständnis für die Geschichte der Region und des Konflikts oft gering.

Ein Großteil der Linken verwendet potenziell nützliche Begriffe wie „Siedlerkolonialismus“ nicht als Analyseinstrumente, sondern als Analyseersatz. Die vereinfachende Anwendung dieser Begriffe ermöglicht es Aktivist:innen, eine Konfrontation mit Komplexität zu vermeiden. Die historische innere Vielfalt des Zionismus, seine ambivalente Beziehung zu verschiedenen Imperialismen und die unterschiedlichen Geschichten von Vertreibungen, die die jüdische Migration aus verschiedenen Ländern nach Israel vorangetrieben haben, werden oft wenig verstanden.

Der Prozess der israelisch-jüdischen Nationalstaatsbildung beinhaltete eine Kolonisierung durch Siedler:innen, in deren Verlauf eine große Zahl von Einwohner:innen verdrängt wurde – auch durch Kriegsverbrechen und gewaltsame Vertreibungen. Dies war auch ein Prozess der verzweifelten Flucht von Menschen, die selbst Opfer rassistischer Gewalt und versuchter Ausrottung geworden waren. Die Palästinenser:innen sind – um es mit Edward Saids Worten zu sagen – „die Opfer der Opfer und die Flüchtlinge der Flüchtlinge“. Die israelischen Jüdinnen:Juden sind bei weitem nicht die einzigen, deren Konsolidierung als Nation und deren Staatsgründung auf der gewaltsamen Enteignung der bisherigen Bewohner:innen eines Gebiets basiert.

Es geht bei einer solchen Auseinandersetzung mit der Geschichte, in all ihrer Komplexität und mit all ihren Spannungen, nicht darum, das Unrecht zu verharmlosen, das die Palästinenser:innen während der Gründung Israels oder danach erlitten haben. Aber eine unvollständige Auseinandersetzung mit der Geschichte dient weder dem Verständnis noch den Bemühungen um die Entwicklung und Unterstützung von Kämpfen für Gleichberechtigung.

Ein größeres historisches Wissen sowie eine engagiertere Auseinandersetzung mit den praktischen Aspekten der Einstaaten-, Zweistaaten- und anderer möglicher „Lösungen“ des Konflikts würde eine erneuerte Solidaritätsbewegung ermöglichen.

Synkretistische Politik

Einer der wichtigsten Trends zeitgenössischer Politik, nach dem Zusammenbruch der Arbeiter:innenmassenbewegungen, ist die Zunahme synkretistischer Formen von Politik, die unterschiedliche politische Traditionen mischen und verbinden – was manchmal als rotbraune oder Querfront-Politik, Diagonalismus oder Konfusionismus bezeichnet wird. Teile der Linken sind gefährliche Bündnisse mit Kräften der extremen Rechten eingegangen. Von rechtsextremen Redner:innen auf Anti-Kriegs-Kundgebungen und ehemaligen Linken, die sich Covid-Protesten anschließen, über anti-imperialistische Vlogger:innen, die paläokonservative Gäste empfangen, bis hin zu anarchistischen Folksänger:innen, die Holocaust-Leugner unterstützen – in letzter Zeit kam es zu einigen alarmierenden Fällen solcher politischen Zusammenarbeit. Diese Bewegungen entstehen oder wachsen manchmal aus dem Versuch der extremen Rechten, sich als links zu vermarkten. Da der Antisemitismus oft unterschiedliche Elemente in synkretistischen Formationen bindet, können diese Trends politisch toxisch sein, wenn sie sich in der Palästina-Solidarität manifestieren.

Lagerdenken – “Campism”

Überall auf der Welt sehen wir Kämpfe für demokratischen Wandel und für mehr Rechte und Gleichheit. Diese werden jedoch zunehmend mit der Behauptung konfrontiert, dass diese Prinzipien nicht Ausdruck universeller menschlicher Bestrebungen und Ansprüche seien, sondern die Hegemonie einer „westlichen liberalen Elite“ und ihrer „unipolaren Weltordnung“ repräsentierten.

Autoritäre und unterdrückerische Regime behaupten, dass Bemühungen, sie an diesen Maßstäben zu messen, nur Versuche sind, die unipolare Hegemonie des Westens zu schützen. Diese Regime stellen sich selbst als Anführer:innen einer entstehenden „multipolaren“ Welt dar, in der autoritäre Regime die Freiheit haben, „Demokratie“ nach eigenem antidemokratischen Bilde zu definieren.

Wie sich rassistische, patriarchale und autoritäre Bewegungen im Westen als die Stimmen des authentischen, verwurzelten Volkes gegen „globalistische“ Eliten präsentieren, so stellen solche Bewegungen sich in ehemaligen westlichen Kolonien als „dekoloniale“ Mehrheit, in Opposition gegen die Hegemonie der „verwestlichten Eliten“ dar.

Die Linke nimmt diese Dynamik oft nicht einmal zur Kenntnis. Schlimmer noch, Teile von ihr verstärken ihre (falsche) Prämisse: Dass tyrannische, autoritäre und reaktionäre Kräfte und Regime einen progressiven Widerstand gegen den „westlichen Imperialismus“ darstellen. Ihre Sorge um das Überleben und die Stärke solcher „multipolaren“ Regime geht auf Kosten einer ungehemmten, bedeutsamen und konsequenten Solidarität für den Widerstand gegen diese Regime.

Der westliche Imperialismus wird von reaktionären Alternativen herausgefordert: Der russische Imperialismus, der chinesische Imperialismus und der iranische Regionalimperialismus, der häufig paramilitärische Stellvertreterkräfte wie die Hisbollah und in gewissem Maße auch die Hamas einsetzt und im Zusammenhang mit der Welle von Befreiungskämpfen, die 2011 aufkam, eine konterrevolutionäre Rolle spielte (und immer noch spielt). Die Petro-Monarchien der arabischen Halbinsel sind zunehmend globale Mächte; andere regional-imperiale oder subimperiale Mächte, wie eine expansionistische und interventionistische Türkei, werden ebenfalls immer stärker und sind sicherlich keine bloßen Klientenstaaten der USA.

Angesichts dieser Situation ist es kein Wunder, dass eine radikale Linke, die jahrelang die Ansicht gepredigt hat, dass alles, was dem hegemonialen Imperialismus – dem der USA – und seinen Verbündeten schadet, notwendigerweise fortschrittlich sein muss, in Apologetik für diese reaktionären Alternativen verfällt. Diese Perspektive – also, sich auf die Seite eines geopolitischen „Lagers“ zu stellen, anstatt ein wirklich internationalistisches Projekt zu verfolgen – ist als „Campism” bzw. „Lagerdenken“ bekannt. Dieser lagerbezogene „Anti-Imperialismus“ verkennt die Tatsache, dass er sich mit seiner Unterstützung der „Achse des Widerstands“ nicht gegen den Imperialismus, sondern auf die Seite eines rivalisierenden imperialen Pols in einer „multipolaren“ Welt stellt.

In einer früheren historischen Periode – jene, die ihren Höhepunkt im Kalten Krieg erreichte – war der Gegenpol zu den USA in der Vorstellung der “lagerdenkenden” Linken die UdSSR – die oft nicht als Vorbild diente, sondern lediglich als Platzhalter für die Möglichkeit irgend einer Alternative. Doch nach dem OPEC-Ölembargo von 1973 und der iranischen Revolution von 1979, und insbesondere nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks, wurde diese Rolle zunehmend von verschiedenen Konfigurationen der „Achse des Widerstands“ übernommen, darunter die Islamische Republik Iran und bald auch die Hamas.

Verschwörungstheorie

Unsere komplexe und „multipolare“ Welt, scheinbar undurchsichtige Macht- und Unterdrückungsmechanismen, sowie Prozesse sozialer Fragmentierung, führen dazu, dass Menschen nach Antworten und Erklärungen jenseits des „Mainstreams“ suchen. Plattformökonomien, die Fehlinformation und Desinformation zu Geld machen und die Verbreitung von Mythen und Lügen erleichtern, bieten einen leichten Zugang zu Verschwörungstheorien, die solche Antworten und Erklärungen zu bieten scheinen.

Die heutigen fragmentierten, schnellen, digitalen Formen des Wissensaustauschs und der Wissensaneignung fördern gleichzeitig Zynismus gegenüber „Mainstream“-Autoritäten und Leichtgläubigkeit gegenüber „alternativen“ Quellen, Freude über die „Entlarvung“ verborgener Wahrheiten und Verzweiflung über die allmächtige Reichweite des Hegemons sowie eine Suche nach Verbindungen zwischen disparaten Phänomenen, ohne die analytischen Werkzeuge die notwendig wären, um deren Bedeutung zu verstehen. Und Verschwörungstheorien führen fast immer zu Antisemitismus, der in der Regel als eine Art Meta-Verschwörungstheorie fungiert.

In zeitgenössischen rechtsextremen Verschwörungsphantasien wird Antisemitismus häufig mit antimuslimischen Vorurteilen verschmolzen, und zwar in Form von „Großer Austausch“-Theorien, die eine von „globalistischen Finanziers“, allen voran George Soros, ausgeheckte Verschwörung behaupten, die darauf abziele, eine hauptsächlich muslimische Einwanderung in Länder mit „weißer“ Bevölkerungsmehrheit zu fördern, um die „weiße“ Bevölkerung „auszutauschen“.

Antisemitismus als Pseudo-Emanzipation

Wie andere Verschwörungstheorien bietet auch der Antisemitismus falsche und oberflächliche Antworten und Erklärungen in einer verwirrenden Welt. Im Gegensatz zu vielen anderen Rassismen erscheint der Antisemitismus oft als ein Ausdruck von Stimmungen “gegen die da oben“: er kann seinem Objekt nahezu unendliche Macht, Reichtum und Gerissenheit zuschreiben. Aufgrund seines pseudo-emanzipatorischen Charakters ist der Antisemitismus oft als “radikal” erschienen. Aber er ist ein Pseudoradikalismus: Indem er “die Juden” als die verborgene Elite identifiziert, die unsere Gesellschaften kontrolliert, dient er dazu, die wirklich herrschenden Klassen unsichtbar zu machen, die Machtstrukturen der Klassengesellschaft zu schützen und die Wut über Ungerechtigkeiten auf die Jüdinnen:Juden zu lenken.

Wie Moishe Postone argumentierte, handelt es sich dabei oft um eine „fetischisierte Form des Antikapitalismus“: „Die geheimnisvolle Macht des Kapitals, die nicht greifbar und global ist und die Nationen, Gebiete und das Leben der Menschen umwälzt, wird den Juden zugeschrieben. Die abstrakte Herrschaft des Kapitalismus wird durch die Juden personifiziert.“ Dieser pseudo-emanzipatorische Antisemitismus hat eine lange Geschichte, die von einigen der Gründungstexte der wichtigsten Strömungen des modernen Sozialismus über die Kongresse der Zweiten Internationale, die Gewerkschaften und Arbeiterparteien zur Zeit der osteuropäischen Massenmigration bis hin zu den Formen des New-Age-Faschismus in der Umweltbewegung reicht. Er war in den Parteien der Russischen Revolution präsent, und wurde dort bekämpft, er drückte sich aus in der Ideologie sowohl der Nazis als auch des Nachkriegsstalinismus sowie bei deren heutigen Erben, in deren Vorstellungswelt „kosmopolitische„, „globalistische“ Finanziers als eine Vampirkrake fantasiert werden, die die produktiven, verwurzelten, einheimischen Arbeiter ausbeutet. Antisemitismus wird aber auch immer häufiger mit einer „antiimperialistischen“ Vision verknüpft, in der eine jüdisch gesteuerte Weltelite den Elenden der Erde im globalen Süden den Lebenssaft aussaugt.

Anbiederung an den Islamismus

Während Teile der Linken (vor allem in Europa, den USA und Lateinamerika, aber auch in anderen Regionen der Welt) auf eine lange Geschichte des antimuslimischen Rassismus zurückblicken (der während des Syrienkriegs wieder in den Vordergrund rückte, als Teile der Linken die Sprache des Krieges gegen den Terror benutzten, um die Revolution zu dämonisieren), hat die oben beschriebene Weltsicht des “Lagerdenkens” in der Zeit nach der Zweiten Intifada und dem 11. September viele Linke dazu veranlasst, den Islamismus als eine fortschrittliche, ja sogar revolutionäre Kraft im Vergleich zum hegemonialen westlichen Imperialismus anzusehen.

Dies ist leider ein globales Phänomen. Die meisten Linken in Südwestasien und Nordafrika (SWANA), die direkter mit der reaktionären Politik des Islamismus konfrontiert sind als Linke in anderen Teilen der Welt, haben jedoch keine derartigen Illusionen, ganz im Gegenteil. Linke von außerhalb SWANAs sollten auf sie hören.

Der Islamismus umfasst viele unterschiedliche Strömungen. Die Hamas ist nicht ISIS, ISIS ist nicht die Taliban, die Taliban sind nicht das Erdoğan-Regime in der Türkei. Auch die Hamas selbst umfasst verschiedene Strömungen. Diese Unterscheidungen zu verstehen, ist wichtig. Aber es sollte die Linke nicht blind für die materielle Realität machen, dass, auf der Ebene gesellschaftlicher Macht, islamistische Bewegungen und Regime (wie auch andere Formen politisierter fundamentalistischer Religion) religiöse, ethnische und sexuelle Minderheiten, Frauen, politische Dissidenten und progressive Bewegungen brutal unterdrückt haben.

Der antijüdische Rassismus ist ein beständiges Element der islamistischen Ideologie, das in Sayyid Qutbs grundlegendem Werk „Unser Kampf gegen die Juden“ (1950) und im Hamas-Pakt von 1988 (in dem die berüchtigte antijüdische Fälschung „Die Protokolle der Weisen von Zion“ zitiert wird) deutlich zum Ausdruck kommt. Die Haltung des Islamismus zu Israel, zum Zionismus und zu den Jüdinnen:Juden ist nicht rein „politisch“, hat seinen Ursprung nich allein in der Konfrontation zwischen Palästinenser:innenn und Zionismus/Israel, sondern ist Teil einer umfassenden antisemitischen Weltanschauung.

Islamistische Bewegungen haben zwar ihre eigenen Perspektiven und Ziele, sollten aber auch im Kontext des Wettbewerbs zwischen regionalen Mächten in einer Welt konkurrierender Imperialismen verstanden werden: Islamisten widersetzen sich dem hegemonialen Imperialismus oft im Namen von oder im Bündnis mit rivalisierenden regionalen Imperialismen – wie dem des Iran. Gleichzeitig haben der US-Imperialismus und mit ihm verbündete Regionalmächte wie Israel manchmal auch islamistische Bewegungen geduldet oder gefördert, um andere Kräfte zu unterminieren.

Die Ansicht, dass Befreiungskämpfe um Geschlecht und Sexualität im Verhältnis zu anderen Themen, z. B. dem Kampf gegen den „Hauptfeind“ „US-Imperialismus“, von zweitrangiger politischer Bedeutung sind, erklärt auch teilweise die Bereitschaft vieler Linker, Bewegungen die, wie alle religiös-fundamentalistischen Bewegungen, von patriarchalen, homophoben und transphoben Regelungen von Geschlecht und Sexualität besessen sind, zu beschönigen, ihre Kritik an diesen Bewegungen zu dämpfen oder sogar Bündnisse mit ihnen vorzuschlagen.

Der Verzicht auf eine Klassenanalyse

Die einzig mögliche Basis für eine authentisch demokratische, antikapitalistische Politik ist der bewusste Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten für ihre Selbstbefreiung. Klassenpolitik ist durch die neoliberalen Siege über Arbeiterbewegungen der letzten Jahrzehnte weit zurückgeworfen worden. Die Preisgabe einer Ausrichtung an der Selbsttätigkeit der Arbeiter:innenklasse, und an anderen demokratischen Kämpfen von unten, hat jedoch eine längere Geschichte. Das letzte Jahrhundert ist tragischerweise voller Beispiele, in denen Linke, anstatt sich an der Selbsttätigkeit der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu orientieren, stalinistische Staaten und verschiedene andere autoritäre Kräfte als deren legitime Stellvertreter akzeptiert haben.

Viele selbstdefinierte Linke sind so weit gegangen – mal mehr, mal weniger „kritisch“ – staatliche und nichtstaatliche Kräfte zu unterstützen, die nicht einmal die Rhetorik und Symbolik des Sozialismus für sich beanspruchen: Putins Russland, Assads Syrien, die Islamische Republik Iran und islamistische paramilitärische Kräfte wie Hamas und Hisbollah.

Wir sind der Meinung, dass der Aufstieg von synkretistischer Politik, Lagerdenken (“Campism”) und Verschwörungstheorien sowie die zunehmende Zugkraft von pseudoemanzipatorischem Antisemitismus zum Teil als Symptome dieser linken Abkehr von der Klassenfrage und von einer Analyse der Dynamik des globalen Kapitalismus erklärt werden können.

Im Mittelpunkt von viel linker Politik der letzten Jahrzehnte stand nicht so sehr der Kampf gegen den Kapitalismus als soziales Verhältnis, sondern die Ablehnung der „amerikanischen Hegemonie“, der „Globalisierung“, des „Finanzwesens“ – oder manchmal des „Zionismus“, der als Vorhut all dieser Kräfte angesehen wird. Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen, die sich selbst als Linke verstehen, mit reaktionären Alternativen zu den derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Arrangements sympathisieren.

Gleichzeitig fördern verkürzte Formen des Antikapitalismus, die sich auf die vermeintlichen moralischen Übel des „Finanz-“ oder „unproduktiven“ Kapitals konzentrieren – anstatt auf den objektiven Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit -, personalisierte Kritiken an „globalistischen Eliten“ und „Rothschild-Bankern“, anstatt eine Bewegung zur Abschaffung des Kapitalismus selbst durch kollektive Organisation und Kampf von unten zu fördern.

Verkürzter Antirassismus

Der zeitgenössische globale Antirassismus ist vom Kontext des 20. Jahrhunderts geprägt, das von Kämpfen gegen den antischwarzen Rassismus in den USA und anderswo, sowie gegen den westlichen Imperialismus und Kolonialismus dominiert wurde. Sein Verständnis von Rassismus ist oft vereinfachend und binär und eignet sich schlecht für das Verständnis der komplexen, sich überschneidenden Linien der Rassifizierung im 21. Jahrhundert.

Die vorherrschende Perspektiven in einem Großteil des „dekolonialen“ Denkens bietet eine manichäische Vision, die die Welt in Kategorien von „Unterdrückern“ und „Unterdrückten“ einteilt, in die ganze Nationen und Ethnien eingepasst werden.

Diese Sichtweise lässt die Linke schlecht ausgestattet, zu verstehen, wie verschiedene Rassismen interagieren – warum Hindu-Suprematisten in Indien beispielsweise begeistert den israelischen Nationalismus unterstützen oder warum der Han-suprematistische chinesische Staat sich als Verfechter der Rechte der Palästinenser:innen präsentiert, während er gleichzeitig im Namen eines „Volkskriegs gegen den Terror“ eine koloniale Besatzung und Massenunterdrückung von Muslimen in Xinjiang/Ostturkestan durchführt.

Eine solche Vision macht es der Linken auch schwer, Rassismus zu verstehen, der nicht farbkodiert erscheint, wie der Rassismus von Westeuropäer:innen gegen „weiße, aber nicht richtig weiße“ Osteuropäer:innen, der russische Rassismus gegen Ukrainer:innen oder der antiarmenische Rassismus.

Insbesondere der Antisemitismus passt nicht in das Weltbild dieses verkürzten Antirassismus, der Jüdinnen:Juden als „weiß“ ansieht und sie daher nicht als Ziel von Rassismus verstehen kann. Diese Perspektive macht Jüdinnen:Juden, die nicht als „weiß“ erscheinen, unsichtbar, und übersieht die Kontingenz und soziale Konstruktion des Weißseins selbst. Die Integration einiger Jüdinnen:Juden in das Weißsein ist real, aber sie ist auch ungleichmäßig und in vielen Fällen jüngeren Datums.

Dieser verkürzte Antirassismus spiegelt den verkürzten Antikapitalismus wider, der die Linke beschädigt hat.

Kurz gesagt, die Erneuerung der Linken als eine Bewegung für internationale Solidarität erfordert einen konsequenten Antirassismus, einen konsequenten Feminismus, eine Erneuerung der Klassenpolitik, eine Erneuerung der Analyse des globalen Kapitalismus und die Ablehnung eines Lagerdenkens, die die Welt sauber und binär in Gut und Böse einteilt.

Wie können wir die Linke verändern und erneuern?

Wir bieten diese Analyse als einen Schritt zur Erneuerung der Linken auf der Grundlage einer genuin internationalistischen und konsequent demokratischen Politik an. Es ist nicht immer einfach, reaktionäre Ideen in den eigenen Reihen anzugehen. Aber wenn wir es tun, profitieren unsere Bewegungen jedes Mal von den tieferen Erkenntnissen, die sich daraus ergeben. Wie könnte es aussehen, wenn die Linke damit beginnen würde?

Konsequente Solidarität

Unser Ausgangspunkt als Internationalist:innen sollte das Eintreten für einen universellen Anspruch auf demokratische Rechte sein. Das Beharren auf Solidarität mit Zivilist:innen, die auf beiden Seiten angegriffen werden, ist keine oberflächliche Form der moralischen Äquivalenz oder des Whataboutism, sondern ein ethisches Grundprinzip. Echte, konsequente Solidarität bedeutet nicht, alle als gleich zu betrachten und strukturelle Unterschiede zwischen den Opfern zu ignorieren, sondern Differenzierung anzuerkennen und zu respektieren.

Die Linke sollte sich um alle zivilen Todesopfer sorgen, unabhängig davon, ob sie vom jüdischen Staat oder von arabischen Staaten, von Staaten des westlichen Lagers oder von Staaten, die sich diesem Lager widersetzen, oder von nichtstaatlichen Akteuren verursacht werden.

Ziele sind wesentlich durch Mittel bedingt und vorgezeichnet; eine Politik, die mit den Mitteln des wahllosen Abschlachtens von Zivilisten betrieben wird, kann nicht emanzipatorischen Zielen dienen.

Besonders problematisch sind politische Strömungen, die das Leiden der Palästinenser:innen im Gazastreifen in den Mittelpunkt stellen, aber schweigen – oder sogar enthusiastisch sind -, wenn Syrer:innen (einschließlich syrischer Palästinenser:innen) von der Assad-Regierung und ihren Verbündeten abgeschlachtet werden (oft gerechtfertigt durch genau dieselbe „Krieg-gegen-Terror“-Rhetorik, die Israel manchmal benutzt, um Tötungen von Zivilisten zu entschuldigen), oder wenn Uigur:innen und andere mehrheitlich muslimische ethnische Minderheiten in China mit Masseninhaftierung, totaler Überwachung und kultureller Auslöschung konfrontiert sind.

Die Stimmen und Erfahrungen von proletarischen, fortschrittlichen und friedensstiftenden Kräften auf beiden Seiten in den Mittelpunkt stellen.

Radikaler demokratischer Wandel ist nur durch bewusste und aktive Selbstorganisation von unten möglich. Eine internationale Linke, die ihre Energien darauf konzentriert, reaktionären Kräften zuzujubeln, trägt nicht zur Entwicklung einer solchen Selbsttätigkeit bei, sondern hemmt sie.

In Israel/Palästina, wie in jedem internationalen Kampf, sollte eine wirklich internationalistische, konsequent demokratische Linke ihre Aktivitäten darauf konzentrieren, den Kräften vor Ort, die sich für eine demokratische Politik einsetzen, zuzuhören, sich mit ihnen zu engagieren und praktische Unterstützung für sie aufzubauen. Das bedeutet, den Stimmen von Basisakteuren – Feminist:innen, Queer-Aktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Umweltaktivist:inneen – in der israelischen und palästinensischen Gesellschaft, die sich gegen die andauernde staatliche Gewalt und die rassistische Spaltung wenden, Gehör zu verschaffen.

Staaten zu kritisieren bedeutet nicht, den Anspruch ihrer Bevölkerungen auf Grundrechte abzulehnen

Nationale Gruppen in ihrer Gesamtheit profitieren oft von der Kolonialpolitik ihrer Staaten und der Unterdrückung anderer Völker. Diese Vorteile sind jedoch nicht einheitlich, und sie bedeuten auch nicht, dass alle Mitglieder eines bestimmten Volkes gleichermaßen an der Politik ihres Staates beteiligt sind oder die gleiche Macht darüber haben.

Solidarität mit den Palästinenser:innen sollte nicht bedeuten, dass man den israelischen Jüdinnen:Juden als Volk von Grund auf feindselig gegenübersteht oder ihren Anspruch auf Rechte ablehnt. Linke Politik sollte darauf abzielen, demokratische Rechte auf eine höhere Ebene zu bringen und zu verbreitern, und nicht darauf, sie den einen zu entziehen, um sie an andere „umzuverteilen“.

Jüdinnen:Juden überall – die oft auf vielfältige Weise mit Menschen und Orten in Israel verbunden sind – fühlen sich angegriffen, wenn Israelis im Allgemeinen ins Visier genommen werden. Die Unterstützung der Rechte der Palästinenser:innen erfordert eine sorgfältige Identifizierung des israelischen Staates – und seiner ideologischen Apparate – als Verursacher von Ungerechtigkeit und nicht des israelischen Volkes als Ganzes, als homogener, politisch undifferenzierter Block betrachtet.

Israel in der Welt begreifen

Der Antisemitismus schreibt den Jüdinnen:Juden traditionell absolute Macht zu. Wenn diese Zuschreibung auf Israel übertragen wird, bleibt sie antisemitisch. Israel existiert in einer komplexen, “flüssigen”, „multipolaren“ Welt; es ist ein mächtiger Staat, aber seine Macht ist innerhalb des globalen Systems begrenzt. Es ist sicherlich nicht die treibende Kraft des Weltimperialismus, als die es in linken Erzählungen manchmal dargestellt wird.

Viele der Dinge, für die es gerecht und notwendig ist, Israel zu kritisieren, sind Dinge, die es mit vielen anderen Staaten auf der Welt gemeinsam hat, einschließlich einiger der Länder, in denen wir selbst leben. Israel nicht zu dämonisieren oder es als etwas völlig Außergewöhnliches zu betrachten, bedeutet nicht, sich mit seiner Politik zu versöhnen, sondern diese Politik in Trends einzuordnen, deren Ausdruck sie ist, nicht jedoch die Quintessenz. Selbst die Brutalität, die Israel derzeit der Bevölkerung von Gaza zufügt, hat einen direkten Präzedenzfall in jüngster Vergangenheit, nämlich den Krieg des Assad-Regimes gegen das syrische Volk.

Linke Strömungen, die den israelischen Siedlerkolonialismus kritisieren und gleichzeitig als Apologeten des russischen Kolonialismus in der Ukraine auftreten, messen mit zweierlei Maß. Wir fordern Genoss:innen auch auf, darüber nachzudenken, ob sie und ihre Organisationen dieselbe Sprache und Gefühlsregister verwenden, wenn es beispielsweise um die Unterdrückung der Kurden durch die Türkei oder die Unterdrückung der Tamilen durch Sri Lanka geht, wie bei der Unterdrückung der Palästinenser:innen durch Israel. Wenn die Antwort nein lautet, sollten sie die politischen Auswirkungen und Implikationen dieser Exzeptionalisierung bedenken.

Kritik des Nationalismus

Nationen sind soziale Konstrukte, die teilweise dazu dienen, Ausbeutung und Unterdrückung innerhalb der Nation (entlang Klassen-, Geschlechter-, ethnischer und anderer Linien) im Namen eines einheitlichen „nationalen Interesses“, zu verschleiern. Unser langfristiges Ziel ist eine freie Assoziation aller Menschen, d. h. eine Welt ohne Nationen, in der ethnische Identifikationen zweitrangig geworden sind. Die Überwindung der Nation ist jedoch schwer vorstellbar in einer Welt, in der Menschen aufgrund ihrer nationalen Herkunft unterdrückt, besetzt und manchmal massakriert werden.

Linke sollten sich gegen die Unterdrückung von Menschen aufgrund ihrer Nationalität stellen. Aber wir müssen auch anerkennen, dass alle Nationalismen – auch die von derzeit unterdrückten Gruppen – zumindest potenziell ausgrenzend und unterdrückend sind. Das Recht eines bestimmten Volkes, seine Selbstbestimmung zu verteidigen oder zu erringen, zu unterstützen, bedeutet nicht, seinen Nationalismus stellvertretend zu übernehmen. Eine internationalistische Linke sollte nicht unkritisch eine nationale Flagge schwenken oder unkritisch einen nationalen Staat oder eine nationale Bewegung unterstützen.

Die Linke sollte das Recht auf Selbstbestimmung als Teil eines Programms für demokratische Gleichheit unterstützen. Das bedeutet, dass sie das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung auf gleichberechtigter Basis unterstützt und jedes Programm ablehnt, das auf die Vorherrschaft eines Volkes über ein anderes abzielt.

Das Ziel der Hamas, die jüdisch-nationalistische Herrschaft durch eine islamisch-nationalistische Herrschaft zu ersetzen – einen theokratischen Staat, aus dem die jüdischen „Usurpatoren“ vertrieben werden – ist reaktionär. Die Tatsache, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass sie dieses Ziel erreichen, macht es vom Standpunkt einer demokratischen, internationalistischen Politik aus nicht unterstützenswerter.

Bedingungsloser Antirassismus

Linke sollten Opfer von Rassismus nicht allein aus Mitgefühl unterstützen – obwohl Mitgefühl immerhin schon besser ist als die hartherzige Gleichgültigkeit, die manchmal in der Linken zu sehen ist. Sondern weil rassistische Ideen unsere Versuche, demokratische Kämpfe voranzutreiben, vergiften.

Das bedeutet, dass wir uns weigern, unsere Solidarität gegen Rassismus an politische Bedingungen zu knüpfen.

Genauso wie es falsch ist, von Palästinenser:innen (oder anderen Araber:innen oder Muslim:innen) zu verlangen, dass sie die Hamas verurteilen, bevor sie das Recht auf Unterstützung gegen Rassismus haben, so ist es auch falsch zu verlangen, dass Israelis oder Diaspora-Jüdinnen:Juden ihre ideologische Reinheit demonstrieren – beweisen, dass sie „gute“ Jüdinnen:Juden sind – bevor Diskriminierung gegen sie ernst genommen wird.

Solidarität gegen Rassismus setzt nicht voraus, dass man die herrschende Politik des Opfers oder der Gruppe gutheißt. Sie erfordert jedoch, dass der Widerstand gegen Rassismus und andere Diskriminierungen bedingungslos ist, selbst wenn Mitglieder der betroffenen Gruppe reaktionäre Ansichten haben.

Die Linke kann und muss sich bedingungslos gegen anti-palästinensischen und anti-muslimischen Rassismus wenden, ohne die Hamas zu unterstützen; sie kann und muss sich bedingungslos gegen Antisemitismus wenden, ohne den israelischen Chauvinismus zu unterstützen.

Keine Plattformen für falsche Freunde

Ein besonderes Merkmal der gegenwärtigen Krise und ihrer globalen Nachbeben ist, dass rechtsextreme Aktivisten (einschließlich Hardcore-Faschisten und buchstäbliche Nazis) die Palästina-Solidarität zynisch nutzen, um den Antisemitismus zu fördern. Eine kleine Zahl rechtsextremer Aktivisten nimmt an Anti-Israel-Märschen teil. Eine sehr große Anzahl pro-palästinensischer Nutzer sozialer Medien verstärkt rechtsextreme Dis-Influencer, die sich in den Diskurs eingemischt haben und oft von russischen und iranischen Netzwerken unterstützt werden. In den Wochen nach dem 7. Oktober sammelten Accounts wie Jackson Hinkle (ein Verfechter des „MAGA-Kommunismus“) und Anastasia Loupis (eine rechte Anti-Impf-Aktivistin) mit ihren viralen Posts (die oft gefälschte Geschichten enthielten) über den Konflikt Millionen von neuen Followern unter israelfeindlichen Nutzern an.

Andererseits ist die extreme Rechte nicht homogen, und rechtsextreme islamfeindliche Aktivisten – von denen sich viele, wenn man nur ein wenig an der Oberfläche kratzt, als antisemitisch erweisen – nutzen auf zynische Weise die jüdische Angst und die allgemeine öffentliche Empörung über den Hamas-Terror, um antimuslimische Feindseligkeit zu fördern und ihr rassistisches Image loszuwerden. Wir müssen diese schlechten Akteure entlarven und an den Rand drängen. Wir müssen klare Grenzen ziehen. Wir sollten nicht zulassen, dass das jüdische und palästinensische Leid von politischen Unternehmern instrumentalisiert wird. Gruppen, die eine aktive Plattform für nazistische, faschistische und ähnliche Redner bieten, sollten ähnlich behandelt werden wie solche, die mit dem “weißen Separatismus” sympathisieren.

Fazit

Wir haben diesen Text als Kritik an einem common sense verfasst, der in weiten Teilen der Linken vorherrschend geworden ist. Es ist eine Kritik von der Linken und für die Linke.

Als linke Aktivisten und Organisatoren sehen wir die Trends, die wir beschreiben, nicht als unvermeidliche Folge linker Grundprinzipien. Wir sehen sie als Folge der Verzerrung und Aufgabe von linken Grundprinzipien.

Wir freuen uns über weitere Unterzeichner:innen, auch über solche, die einige Teile des Textes unterstützen wollen, andere aber nicht, sowie über kritische Reaktionen. In Anbetracht des Kontextes begrüßen wir insbesondere Antworten, auch kritische, von palästinensischen und israelischen Linken. Wir hoffen, dass der Text zu einer breiteren Debatte darüber beitragen kann, wie die Linke umgestaltet und erneuert werden kann.

Wir sehen diese Bemühungen um Erneuerung und Transformation als eine notwendige Aufgabe für jeden, der die Möglichkeit eines systemischen Wandels nicht ausschließen will. Wir freuen uns über jeden, der sich für einen solchen Wandel einsetzt und der versteht, dass die Linke sich selbst verändern muss, um ein wirksames Instrument zu sein, ihn zu erreichen.

Autoren: Ben Gidley, Daniel Mang, Daniel Randall

Übersetzung: Bernhard Hayden, Jakob Heyer, Daniel Mang

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